Nürnberger Trichter: Harsdörffers Poetiklehrbuch der deutschen Dicht- und Reimkunst

Nürnberger Trichter: Harsdörffers Poetiklehrbuch der deutschen Dicht- und Reimkunst
Nürnberger Trichter: Harsdörffers Poetiklehrbuch der deutschen Dicht- und Reimkunst
 
Zur Redewendung »Nürnberger Trichter«
 
Die Redewendung »Nürnberger Trichter« bezeichnet scherzhaft ein Lernverfahren, bei dem wie mit einem Trichter dem Lernenden der Lernstoff eingefüllt wird, ohne dass es dazu seiner eigenen Anstrengung bedürfte. Ebendies besagt die entsprechende Redensart »jemandem etwas mit dem Nürnberger Trichter eingießen«. Die Redewendung oder Redensart geht auf den Titel eines Poetiklehrbuchs des Nürnberger Barockpoeten Georg Philipp Harsdörffer zurück: »Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugießen«; der erste Teil erschien 1647.
 
Harsdörffer hat allerdings weder die zugrunde liegende Redensart erfunden noch den bildlichen Ausdruck für ein Lehrbuch im Schnellverfahren erstmals benutzt: In älterer Form ist die Redensart »jemandem etwas mit einem Trichter eingießen« bereits in Sebastian Francks Sprichwörtersammlung von 1541 belegt. Und für Leitfäden oder Lehrbücher im Schulgebrauch war »Trichter« zu Harsdörffers Zeiten ein üblicher Titel. So verwies er selbst in der Vorrede zum ersten Teil seines »Poetischen Trichters« auf H. Schickards Sprachlehrbuch »Hebreischer Trichter«, das 1627 erschien.
 
Seltsamerweise hat die seit dem 18. Jahrhundert gebräuchliche Kurzform der besagten Redensart »jemandem etwas eintrichtern« eine etwas andere Bedeutung bekommen, nämlich jemandem mit Mühe etwas beibringen, was er zu lernen oder zu beachten hat. Jedoch trifft bemerkenswerterweise weder diese Bedeutung noch jene der Langform den Sinn des Lehrbuches, auf das die Redensart zurückgeführt wird.
 
 Das Lehrbuch »Poetischer Trichter«
 
Georg Philipp Harsdörffers Barockpoetik »Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugießen« erschien in drei Teilen 1647, 1648 und 1653; der dritte Teil trägt den Titel »Prob und Lob der Teutschen Wohlredenheit«. Alle drei Teile sind in sechs Kapitel gegliedert und mit einem Anhang versehen; die Anhänge der ersten beiden Teile handeln von der Rechtschreibung und von der deutschen Sprache.
 
Das unglaubliche Versprechen des Buchtitels, dem Leser in sechs Stunden die deutsche Dicht- und Reimkunst einzugießen, schränkt Harsdörffer in der Vorrede zum zweiten Teil freilich ein: Wer der edlen Dichtkunst, dieser schönen Jungfrau, sechs Stunden Gesellschaft leiste, erlange »vielleicht einen Zutritt«, erkenne aber »ihre Tugend noch lang nicht«. Wer Näheres von ihr wissen wolle, müsse seine fortwährende Liebe durch weiteres Lernen erweisen und sich durch allerlei Übung um sie bemühen. Die Gunst der Dichtkunst sei »nicht sonder große Mühe« zu erwerben; überdies bedürfe es zu ihrer Beherrschung »seltner Gaben der Natur« sowie der Kenntnis »fast aller Wissenschaften«. Harsdörffer wähnt übrigens keineswegs, selbst ein Meister der Dichtkunst zu sein, »der andre zu lehren und Gesetze vorzuschreiben vermöchte«. Er habe lediglich zusammengetragen, was er bei anderen Dicht- und Reimkünstlern gelesen habe.
 
Der Anlass, das Lehrbuch für den lehr- und lernbaren Teil der Dichtkunst zu schreiben, war anscheinend eine Wette Harsdörffers, dass er in sechs Stunden jemanden die Regeln der Dichtkunst lehren, ihn jedoch nicht zum Dichter machen könne. In der Tat hat Harsdörffer ein Lehrbuch verfasst, das für Anfänger und vor allem für Schüler gedacht ist. So betont er in der Vorrede zum ersten Teil, dass man die Dichtkunst bereits in der Jugend lernen sollte, weil sie zur gelehrten Bildung und zur gründlichen Beherrschung der Muttersprache gehöre. Außerdem lerne man in der Jugend ungleich leichter und habe im Alter meist keine Zeit mehr für die Dichtkunst. Um zur Dichtkunst zu gelangen, müsse man 1. »einen kurzen Entwurf der Poeterey« nehmen, 2. die Gedichte eines guten Poeten nach den gelernten Lehrsätzen untersuchen, 3. selbst Verse dichten und 4. die »besten teutschen Poeten« lesen, ihnen folgen und seine eigenen Versuche andere lesen und verbessern lassen. Seinen eigenen Entwurf der Dichtkunst hält Harsdörffer allerdings für geeignet: Er sei »so deutlich, daß es ein jeder Knab und in kurtzer Zeit wird fassen können«.
 
Mit seinem Poetiklehrbuch trat Harsdörffer in die Fußstapfen von Martin Opitz, der 1624 mit seinem »Buch von der deutschen Poeterey« die erste deutsche Poetik geschrieben und eine Poesiereform eingeleitet hatte. Opitz hatte im Wesentlichen die Prinzipien der traditionellen Poetik und Rhetorik, besonders die der Renaissance und der Antike, auf die deutsche Dichtung übertragen. Harsdörffer ging insofern einen Schritt über Opitz hinaus, als er den Eigenwert der deutschen Sprache stärker hervorhob. Deshalb verzichtete er im Gegensatz zu Opitz auch konsequent auf lateinische oder griechische Beispiele. Was den Zweck der Dichtkunst betrifft, so folgte Harsdörffer stillschweigend der klassischen horazischen Formel des »prodesse et delectare«: Der Inhalt einer Dichtung solle nützen, insbesondere lehren, und erfreuen oder wenigstens vergnügen, wobei ein »löblicher«, d. h. christlicher Dichter selbstverständlich die Gebote der Moral und Religion zu beachten habe. Mindestens in einem Punkt ging Harsdörffer weiter als seine Vorgänger: Das wiederum horazische Diktum »ut pictura poesis« (»wie ein Gemälde ist die Dichtung«) nahm er nahezu wörtlich, indem er die Dichtung ein »redendes Gemälde« nannte. Er betonte nicht nur die Bedeutung von sprachlichen Bildern, von Schmuck- und Sinnbildern, Gleichnissen und Umschreibungen, sondern gab dem dritten Teil seines Poetiklehrbuchs als Anhang ein fast 400 Seiten umfassendes Verzeichnis bildlicher Ausdrücke bei, ein Metaphernlexikon für die Poesiepraxis. Eine enge Verbindung sah Harsdörffer auch zwischen Poesie und Musik. Wie wesentlich die Klangmalerei für ihn war, zeigt sich besonders in seinen eigenen Gedichten.
 
 Harsdörffer und der Nürnberger Dichterkreis
 
Georg Philipp Harsdörffer (* Nürnberg 1. 11. 1607, ✝ 17. 9. 1658) stammte aus einer Nürnberger Patrizierfamilie. Nach seinem Studium in Altdorf und Straßburg unternahm er Bildungsreisen nach der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, England und Italien. Auf seiner längeren Italienreise (u. a. Rom, Neapel, Siena) empfing er die entscheidenden Eindrücke für seine poetischen Ansichten. Obwohl er ab 1632 in Nürnberg juristische und politische Ämter ausübte, trat er als fleißiger, vielseitiger Gelehrter und fruchtbarer, erfolgreicher Schriftsteller hervor.
 
Er pflegte die gelehrte Gesellschaftsdichtung, besonders die damals modische Schäferdichtung nach romanischem Vorbild. In seinen »Frauenzimmer-Gesprächspielen«, die er in acht Bänden von 1641 bis 1649 veröffentlichte (ab dem dritten Band nur noch als »Gesprächspiele«), verband er die Form italienischer Renaissancedialoge mit Spielarten moderner romanischer Literatur; den Stoff, Erzählungen und Erkenntnisse aller Art, bot Harsdörffer in literarischer, unsystematischer Gesprächsform mit Spielanleitungen so dar, dass die Gesprächspiele »bey Ehr- und Tugendliebenden Gesellschaften. .. zu nützlicher Ergetzlichkeit« fortgeführt werden können. So versuchte er den kulturtragenden Schichten zwanglos ein gesellschaftliches Bildungsideal zu vermitteln. Mit seiner poetischen Leichtigkeit und literarischen Gewandtheit wurde Harsdörffer zu einem bedeutenden Anreger der deutschen Gesellschaftsdichtung und -kultur. Genoss er zu Lebzeiten großes Ansehen als Gelehrter, Dichter, Übersetzer und Anreger, so wurde er später mit Spott bedacht wegen der Lautmalerei seiner Gedichte, besonders des Singsangs der Binnenreime, und nicht zuletzt wegen der »Eintrichterei« seiner Poetik.
 
Im Titel des »Poetischen Trichters« wird als Autor allerdings Harsdörffer namentlich gar nicht genannt, sondern lediglich »ein Mitglied der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft«. Im Text bezeichnet sich der Autor als »der Spielende«. — Dieses Versteckspiel verweist auf einen weiteren Hintergrund, vor dem Harsdörffers Poetiklehrbuch zu sehen ist: die Sprachgesellschaften. Harsdörffer war Mitglied jener Fruchtbringenden Gesellschaft, der ersten und größten deutschen Sprachgesellschaft, die 1617 in Weimar nach dem Vorbild der Accademia della Crusca in Florenz gegründet worden war; und in ihr trug er eben den Gesellschaftsnamen »der Spielende«. — Es bleibt freilich ein Rätsel, warum Harsdörffer diese Sprachgesellschaft im Titel genannt hat und nicht den Nürnberger Dichterkreis, dessen Gründer und Leiter er war.
 
Ende 1644 hatte Harsdörffer mit Johann Klaj den Nürnberger Dichterkreis »Löblicher Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz« gegründet. Im Unterschied zur Fruchtbringenden Gesellschaft stammten die Mitglieder des Nürnberger Dichterordens nicht vorwiegend aus dem Adelsstand, sondern aus dem Bürgertum, und stand im Zentrum nicht nur die Pflege der deutschen Sprache und Dichtung nebst der Pflege tugendhafter Sitten, sondern vor allem die Pflege der Gesellschaftsdichtung. Überdies war bei den Pegnitzschäfern das weibliche Geschlecht verhältnismäßig stark vertreten, während es in anderen Sprachgesellschaften gar nicht zugelassen war. Gleichwohl wird der Dichterkreis der Pegnitzschäfer zurecht den Sprachgesellschaften zugerechnet: Ihre Satzung nennt als Zwecke der Gesellschaft und ihrer Dichtung die Sprachpflege, die Tugendförderung und die Gottesehre.
 
Diese drei Programmpunkte begegnen denn auch in Harsdörffers Poetik allenthalben, ja sie kann geradezu als Regelwerk der Pegnitzschäfer gelesen werden. Doch obwohl Harsdörffer der Gründer und Leiter der Pegnitzschäfer war, so war er doch nicht deren Gesetzgeber: Die Gesellschaftsdichtung, die der Dichterorden pflegte, war auf gegenseitige Anregung angewiesen. So dürfte auch die enge Verbindung von Poesie, Malerei und Musik in Harsdörffers Poetik damit zusammenhängen, dass auch Maler und Musiker dem Nürnberger Dichterkreis angehörten. Waren viele Elemente in Harsdörffers »Poetischem Trichter« zeitgebunden und aus vorhergehenden Lehrbüchern der Poetik und Rhetorik zusammengestellt, so nahm er doch mit der Verschmelzung der Sinnesbereiche und der Vorstellung eines Gesamtkunstwerks Ideen der modernen Dichtung und Kunst vorweg. Jedenfalls hatte Harsdörffer mit seiner Poetik und dem Nürnberger Dichterkreis einen bedeutenden Einfluss auf die deutsche Literatur- und Poetikgeschichte. Sogar Literaten des 20. Jahrhunderts, zumal Repräsentanten der konkreten Poesie, sollen freiwillig zum »Poetischen Trichter« und Harsdörffers Poesie gegriffen haben, um sich anregen oder gar beeinflussen zu lassen.
 
 
Peter Hess: Poetik ohne Trichter. Harsdörffers »Dicht- und Reimkunst«. Stuttgart 1986.

Universal-Lexikon. 2012.

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